Cover
Titel
Kriegszeit. Liechtenstein 1939 bis 1945


Autor(en)
Geiger, Peter
Herausgeber
Verlag des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein
Erschienen
Zürich 2010: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
2 Bände, 692 S. 636 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Carlo Moos, Historisches Seminar, Abt. Neuzeit, Universität Zürich

Mit seinen über 1300 Seiten liegt hier ein in jeder Hinsicht gewaltiges Werk vor, das eine nahezu lebenslange Beschäftigung des 1942 geborenen Verfassers, Historiker am Liechtenstein-Institut in Bendern, vorläufig abschliesst, nachdem 1997 eine fast ebenso umfangreiche Arbeit zu Liechtensteins Krisenzeit während der 1930er Jahre vorausgegangen ist. Dazwischen hat Geiger von 2001 bis 2005 die Unabhängige Historikerkommission Liechtenstein – Zweiter Weltkrieg (UHK) präsidiert. Ohne jeden Zweifel ist der im Fürstentum lebende Schweizer die Autorität in der liechtensteinischen Zeitgeschichts-Forschung.

Sein Kriegszeit-Werk teilt Geiger in elf Grosskapitel ein, die einen Bogen von der Zeit vor in die Zeit unmittelbar nach dem Krieg schlagen, mit Schwerpunkten in der militärischen Bedrohungslage, im sehr breit behandelten «schwierigsten» Jahr 1940 mit seiner inneren und äusseren Verunsicherung, in der Aussenpolitik zwischen der Schweiz und dem NS-Reich, in den Auseinandersetzungen mit und um den Nationalsozialismus und in der Bedeutung von Fürst Franz Josef II. während des Kriegs. Adäquat und knapp wird jeweils auch auf die Ergebnisse der UHK-Arbeiten verwiesen, deren im Auftrag der liechtensteinischen Regierung bearbeitete Fragen um Flüchtlinge und Immigranten, Vermögenswerte, Kunstwerte und Produktion für den deutschen Kriegsbedarf hier nicht mehr weiter vertieft werden, zu Recht, wie dem Rezensenten scheint, allerdings mit Ausnahme des wichtigen Themas der liechtensteinischen Wirtschaft im Krieg, das aus Platzgründen weggelassen werden musste, wie gesagt wird: ein bedauerlicher und etwas unverständlicher Mangel, der indessen der einzige in diesem Riesenwerk ist.

Dieses weist ansonsten grosse Stärken auf, die sich vor allem dort überzeugend zeigen, wo besonders heikle Themen zur Sprache kommen. Zu ihnen zählt das Verhalten der politischen Führung und insbesondere des Regierungschef-Stellvertreters Alois Vogt gegenüber Nationalsozialismus und NS-Reich, aber auch die Rolle des Fürsten. Vogt, ein wendiger Anpasser, der sich nachträglich patriotische Motive für sein unpatriotisches Machtstreben zuschrieb, wird differenziert und ausgewogen beurteilt, freilich fast zu verständnisvoll, weil er zeitweilig dem Hochverrat gefährlich nahe kam, auch wenn eine Abrechnung nach dem Krieg ausblieb. Die nötige Zweidrittelmehrheit für eine Ministeranklage kam 1946 im Landtag nicht zustande, wie ein Schlüsseldokument in einem parallel zu den Geiger-Werken herausgegebenen Quellenband zeigt. 1 Fürst Franz Josef II. schillert dagegen zwischen dem fürsorglichen Landesvater, der auch im Nachhinein als wichtige Integrationsfigur erscheint, und dem Chef des Hauses Liechtenstein, der intensiv für die Rückgewinnung der nach dem 1. Weltkrieg in der Tschechoslowakei verloren gegangenen Güter (die in der Kriegszeit im «Reichsgau Sudetenland» und im «Protektorat Böhmen und Mähren» lagen) arbeitete und sich nicht immer lupenrein bewegte. In diesem Kontext erscheint auch sein Umgang mit Regierung und Landtag in der Frage einer Neuerrichtung der Gesandtschaft in Bern gegen Ende des Kriegs reichlich seltsam und die damit verbundene spätere Entlassung des an sich verdienten Regierungschefs Josef Hoop ungerecht. Anders als heute waren aber Position und Person des Fürsten damals unangefochten – ausser seitens der eingefleischten Nationalsozialisten im Umfeld ihres aggressiv antisemitischen Organs «Der Umbruch». Diese waren im ohnehin exponierteren Fürstentum die ganze Kriegszeit hindurch prozentual erheblich zahlreicher als in der Schweiz, was nicht zuletzt die rund 100 liechtensteinischen Kriegsfreiwilligen auf deutscher Seite (70 von ihnen in der Waffen-SS) bezeugen; sie entsprachen ungefähr fünf Prozent der wehrfähigen Liechtensteiner (vergleichsweise zwanzigmal mehr als die 1000 Hitlerfreiwilligen aus der Schweiz).

Zu den heiklen und von Geiger besonders effizient ausgeleuchteten Seiten der liechtensteinischen Weltkriegs-Problematik gehören nicht zuletzt auch die Beziehungen zur Schweiz, in deren Neutralität und Zoll- und Wirtschaftsraum das unbewaffnete Fürstentum seit 1919 bzw. 1923 (Zollvertrag) und 1941 (Fremdenpolizeiabkommen) einbezogen war, was zwischen den beiden ungleichen Partnern immer wieder zu Schwierigkeiten und Spannungen führte, letztlich aber – weil der Kleinstaat als Anhängsel des grösseren Nachbarn galt – vielleicht auschlaggebend zu seiner Rettung vor Besetzung und Anschluss ans NS-Reich beigetragen haben dürfte. Interessant wäre diesbezüglich zu erfahren, was sich seither in den Beziehungen der beiden Länder geändert hat. Zweifellos ist das Fürstentum dank seinem 1995 erfolgten Beitritt zum EWR in Europa mittlerweile besser positioniert als die Schweiz.

Geigers Akribie ist bisweilen fast beängstigend, die Kenntnis eines schier unüberblickbaren Materials (seine Bibliographie umfasst 40 engbedruckte Seiten, davon fast die Hälfte Quellen aller Art, auch mündliche) aber souverän und dessen Einsatz nach jeder Richtung einwandfrei. Allerdings ist das Werk wegen seiner Fülle, obwohl sehr lesbar geschrieben, eher schwer geniessbar, und man fragt sich, wer ausser den – freilich sehr zahlreichen – Personen, die explizit genannt werden, und ihren Angehörigen ein derart (über)gewichtiges Buch erstehen will. Vielleicht müssten sich Autor und Verlag überlegen, ob nicht eine schlanke Kurzfassung vorgelegt werden könnte, die jenseits des Kreises direkt und indirekt Betroffener auf ein breiteres Interesse über Liechtenstein hinaus stossen könnte. Eine Auswahl von 225 chronologisch angeordneten repräsentativen Dokumenten zu den Krisen- und Kriegsjahren des Fürstentums liegt inzwischen – wie oben angedeutet – in einem separaten Quellenband von rund 700 Seiten vorbildlich ediert vor, womit ein Desiderat, das die UHK seinerzeit formulierte, eingelöst ist.2

So oder so verfügt das Fürstentum Liechtenstein dank Peter Geiger nunmehr über eine ausgesprochen zuverlässige und streckenweise recht eigentlich spannende Aufarbeitung seiner Krisen- und Kriegsjahre, um die man es beneiden kann. Die Landesregierung hat im Übrigen seinerzeit rascher und eleganter als die Schweiz reagiert, als erste Anschuldigungen wegen der Weltkriegsvergangenheit laut wurden, und sofort eine Kommission eingesetzt, in der neben zwei Schweizern (einer von ihnen als Präsident), einem Liechtensteiner als Vizepräsident und einer Österreicherin auch zwei hochrangige Vertreter der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem Einsitz hatten. Es ist zu vermuten, dass Geiger, schon damals der Spezialist für diese Fragen, bei dieser geschickten Lösung eine glückliche Hand mit im Spiel hatte.

1 Wirtschaftskrise, Nationalsozialismus und Krieg. Dokumente zur liechtensteinischen Geschichte zwischen 1928 und 1950. Bearb. von Stefan Frey und Lukas Ospelt, hrsg. Vom Liechtensteinischen Landesarchiv, Vaduz, Verlag des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein / Zürich, Chronos, 2011. 704 Seiten; hier S. 602–607.
2 Ibid., das Quellenwerk dient auch als Wegweiser durch eine Datenbank mit rund 1000 Dokumenten aus dem Zeitraum 1928–1950: www.e-archiv.li [Zugriff: 09. Juli 2013].

Zitierweise:
Carlo Moos: Rezension zu: Peter Geiger: Kriegszeit. Liechtenstein 1939 bis 1945. Vaduz, Verlag des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein / Zürich, Chronos, 2010. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 63 Nr. 2, 2013, S.326-328.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 63 Nr. 2, 2013, S.326-328.

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